In vielen Publikationen zum Thema Hochsensibilität werden die Schattenseiten der Veranlagung ins Rampenlicht gerückt. Hochsensible werden – etwas übertrieben formuliert - als bedingt lebenstüchtige Mimosen beschrieben, denen bereits das Rascheln des Herbstlaubs Qualen bereitet und maximal eine Person am Tag als Gesprächspartner zugemutet werden kann. Auch wenn sich das medial gut verkaufen lässt: so ist es nicht und auch nicht so ähnlich.
Hochsensibilität (der Begriff ist meiner Ansicht nicht ganz glücklich gewählt) ist eine Veranlagung, die Menschen zu intensiver und differenzierter Wahrnehmung ihrer Umwelt und zu stärkeren Empfindungen befähigt. Wahrgenommenes wird gründlicher und vielfältiger verarbeitet und beschert den Betreffenden ein reiches Innenleben und eine komplexe Gedankenwelt. Und manchmal eben auch 'zu viel' davon.
Würden Sie mit Stöckelschuhen auf eine Bergtour gehen? Nein? Oder vielleicht mit einem flachen Flitzer auf unbefestigten Straßen die Landschaft erkunden? Auch nicht? Die Attraktivität und Praktikabilität von High Heels und Sportwägen hängt vom Einsatzort ab, sie wollen gut behandelt werden, sonst hat man nicht lange Spaß daran.
Auch Hochsensibilität schenkt ihren 'Besitzern' nur dann Freude, wenn sie pfleglich damit umgehen. Wer viel aufnimmt und sich gedanklich aktiv damit beschäftigt 'überhitzt' schon mal und wird dann mit den Kehrseiten der Begabung konfrontiert. So ist das mit besonderen Schätzen: Je feiner das Leder, desto empfindlicher ist es; je ausgefeilter die Technik, desto abhängiger vom richtigen Handling.
Hochsensibilität ist vergleichbar mit einem Präzisionsgerät: wertvoll und leistungsfähig, aber auch anfälliger für Störungen und ungeeignet, um einen Nagel in die Wand zu schlagen.
Die Stilettos lassen sich gegen Wanderschuhe eintauschen und der Sportwagen gegen ein Fahrrad, ob man ein Vielfühler sein möchte oder nicht, kann man nicht wählen. Mit den folgenden '5 Rs' schafft man die Voraussetzungen für innere Zufriedenheit und guten Umgang mit der speziellen Ausstattung, die die Natur hochsensiblen Menschen mitgegeben hat.
1_RESPEKT
vor der eigenen Besonderheit und vor der Art der anderen
2_RESSOURCEN
einsetzen, statt mit den Defiziten zu kämpfen
3_REDUKTION
von Reizen im Außen und Innen, wo immer möglich
4_REGENERATION
als notwendige Quelle neuer Kraft
5_RICHTIGEN MASZSTAB,
nämlich den eigenen finden
1_RESPEKT vor der eigenen Besonderheit und vor der Art der anderen
Respektieren Sie sich und Ihre Besonderheit. Es gibt Sie nur in dieser Ausführung. Die Kunst besteht darin, die Vorzüge der speziellen Art der Wahrnehmung und des Denkens zu entdecken und für sich und andere nutzbar zu machen. Wer damit hadert, am liebsten ein ganz anderer wäre und den Blick auf die Nachteile fokussiert, wird unzufrieden und unglücklich werden und die Chancen verschenken.
Respekt verdient auch das Wesen der anderen. Die Mehrheit der Menschen ist anders gestrickt, sie haben andere Vorlieben und Vorzüge, die passend zu deren Veranlagung sind. Davon ist nichts besser oder schlechter, sondern eben anders. In der Vielfalt und Ergänzung liegt das Potenzial, nicht in der Abwertung.
2_RESSOURCEN einsetzen, statt mit den Defiziten zu kämpfen
Suchen Sie aktiv nach Möglichkeiten, Ihre Ressourcen einzusetzen und Ihre Fähigkeiten zu nutzen, beruflich und/oder privat. Gut macht man, was man gut kann, dort fließt die Energie, dort ist Leichtigkeit, dort warten Zufriedenheit (innen) und Anerkennung (außen). Verschwenden Sie Ihre Kraft nicht im stetigen Kampf gegen Ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Defizite.
Das setzt voraus, dass Sie sich über Ihre Talente im Klaren werden und sie nicht als Selbstverständlichkeit oder Nebensächlichkeit abtun. Gönnen Sie sich Erfolgserlebnisse und bringen Sie zum Einsatz, wofür Sie durch Ihre Veranlagung besonders prädestiniert sind.
3_REDUKTION von Reizen im Außen und Innen, wo immer möglich
Wer mehr aufnimmt und mehr verarbeitet, hat im wahrsten Sinn des Wortes 'den Kanal' schneller voll. Deshalb sollten Sie, wo immer möglich und von Ihnen zu entscheiden, von allem weniger tun und sich ohne schlechtes Gewissen gut dabei fühlen. Reduzieren Sie aktiv alles, was auf Sie einströmt, bedacht, beachtet, gefühlt sein will.
Werden Sie kreativ, vermeiden Sie z.B. ständige Erreichbarkeit über diverse Medien, tägliche (schlechte!) Nachrichten in Radio und TV, aufmerksamkeitsfordernde Chats, Optimierung von Dingen mit geringer Bedeutung, offenes Ohr für Menschen, die immer etwas zu klagen haben, Hunger, einengende Kleidung und Freizeitstress. Gönnen Sie sich Kopfhörer mit Noise Cancelling Funktion (eher teuer) oder welche für Handwerker (nicht hübsch, aber sehr wirkungsvoll), ... und machen Sie ab und zu einfach mal gar nichts.
4_REGENERATION als notwendige Quelle neuer Kraft
Sorgen Sie für ausreichenden Ausgleich zu allem, was Sie aufgenommen haben. Geben Sie sich Zeit für Verarbeitung und Regeneration. Auch kurze Pausen bewirken schon eine ganze Menge. Investieren Sie in eine gute Ausstattung für Ihr Bett, damit Sie nachts einen erholsamen Schlaf finden. Suchen Sie den für Sie passenden Weg der Entspannung und des Loslassens (nichts tun, Badewanne, Spaziergang, schmökern, Musik hören, kochen, meditieren, Sport ohne Leistungsstress, etc.) und vor allem: schlafen Sie mit gutem Gewissen, auch gerne länger als andere.
5_RICHTIGEN MASZSTAB, nämlich den eigenen finden
Legen Sie an alles, was Sie tun, Ihren eigenen Maßstab an, nicht den der anderen und leben Sie danach. Achtung: Vielfühler neigen zu Perfektionismus und dazu, Ihre Leistungen zu unterschätzen. Legen Sie die Latte nicht zu hoch und vermeiden Sie Frusterlebnisse. Andere Menschen können verschiedene Dinge besser als Sie, das ist normal. Dafür haben Sie Talente, die anderen fehlen. Pflegen Sie Ihre Individualität, erlauben Sie sich an einigen Stellen anders zu sein, setzen Sie realistische Erwartungen an sich selbst, nur so können Sie Zufriedenheit erreichen.
5 Rs - 5 Punkte, die nicht immer einfach zu realisieren sind. Wenn es Ihnen gelingt, bringen Sie die positiven Seiten der Hochsensibilität für sich zur Geltung. Und wenn das Herbstlaub doch
einmal zu laut raschelt, denken Sie an die Stille des kommenden Winters und seien Sie dankbar dafür, dass Ihre Sinne Sie so intensiv am Leben teilhaben lassen.