Nein, so ist es nicht!
Ich kenne Menschen, die würden sofort nach dem Notausgang suchen, wenn man ihnen mitteilen würde, dass sie sich mit zehn Hochsensiblen im gleichen Raum aufhalten. Mit Sensiblen ist das Leben schon schwer genug, wie dann erst mit Hoch-Sensiblen?
Der Begriff Hochsensibilität hat sich im deutschsprachigen Raum etabliert, auch wenn er aus meiner Sicht nicht sonderlich glücklich gewählt ist als Übersetzung des englischen “Sensory Processing Sensitivity”. Spontan denken viele bei dem Ausdruck an hyperempfindliche Menschen, die stets erwarten, mit Samthandschuhen angefasst zu werden und wegen jedem und allem beleidigt sind.
Umgangssprache und Fachsprache sind nicht immer deckungsgleich.
Ja, bitte so …
Wenn in Publikationen von Hochsensibilität gesprochen wird, ist damit eine Veranlagung gemeint, die Menschen befähigt, ihre Umwelt intensiver und differenzierter wahrzunehmen und diese Informationen gründlich und vielschichtig zu verarbeiten. Sie beschert ihren “Besitzern” ein reiches Innenleben und eine komplexe Gedankenwelt. Sie ermöglicht tiefe Empfindungen und ein hohes Maß an Empathie.
Die Anlagen bewirken allerdings auch, dass sie schneller überstimuliert sind, was für sie selbst oft unangenehm ist und sich auch für andere sichtbar im Verhalten niederschlagen kann. Deshalb haben sie häufiger das Bedürfnis nach Rückzug und Regeneration.
Erstmals wurde 1997 von Elaine N. Aron, einer amerikanischen Psychologin, im renommierten Journal of Personality and Social Psychology (73, 345-368) ein Fachartikel zu dem Phänomen veröffentlicht. Seither wird es in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Kreisen diskutiert und hat nach dem gelungenen Sprung über den Ozean auch den deutschen Sprachraum erreicht. Die rasant steigende Anzahl der Publikationen in den Medien und Summe einschlägiger Ratgeber sowie dazu passender Berater demonstriert eindrucksvoll die Popularität.
Nein, so wirklich nicht
Es wird viel geschrieben, es wird viel abgeschrieben und es wird geschrieben, was gerne gelesen wird. Dazu eignen sich besonders spektakuläre Berichte über so bezeichnete HSP (Hochsensible Personen), die schon morgens in der Dusche das kalte Grausen überfällt, da die harten Wassertropfen auf der Haut nur schwer zu verkraften sind und das Prasseln in der Wanne ohrenbetäubend laut erscheint.
Besonderheit –> Schwierigkeit –> Problem –> Krankheit – diese Kette kann einfach aneinander gereiht werden, was sie aber auch nicht richtiger macht. Gar zu schnell werden Abweichungen von der Norm, insbesondere wenn sie mit Problemen verbunden sind, zu einer Krankheit hochstilisiert. Was ist krank? Wer ist krank? Der deutsche Gerichtshof hat, da es rechtlich bedeutungsvoll ist, wann man von Krankheit spricht und wann nicht, eine Definition festgelegt ( BGH 2 StR 393/57): “Krankheit ist jede Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt, d. h. beseitigt oder gelindert werden kann.”
Der Körper und der Geist von Hochsensiblen funktioniert (wenn es nicht andere Ursachen dafür gibt), ganz “normal”, jedenfalls nicht so, dass daran etwas geheilt oder beseitigt werden sollte. Eine besonders aufmerksame Wahrnehmung ist wunderbar, eine tiefe Emotionalität ein Geschenk. Wer wollte daran herumdoktern? Einem mehr-als-normal-intelligenten Mensch, den man gewöhnlich als hochbegabt bezeichnet, würde man doch auch keine Krankheit anhängen, oder?
Der Umgang mit der Besonderheit ist allerdings nicht immer einfach und gelingt nicht jedem in jeder Situation auf Anhieb. Die Mehrzahl der Menschen in der Umgebung eignen sich nicht als Modell, wenn es darum geht, Strategien für sich selbst zu entwickeln. Die Mehrzahl der Menschen denkt und fühlt nämlich anders. Insofern sind Hochsensible manchmal darauf angewiesen, den Austausch mit anderen “ihrer Art” zu suchen, um sich selbst weiter zu entwickeln und eventuell auftretende Schwierigkeiten zu meistern. Aber die Ursache dafür ist keine Krankheit, sondern fehlende Strategien für den Alltag.
Heutzutage tragen Kinder meist Schuhe mit Klettverschluss. Das führt dazu, dass viele nicht gelernt haben, Schnürsenkel zu binden. Stellen Sie sich den kleinen Max vor, der zum ersten Mal im Leben mit solchem Schuhwerk konfrontiert wird. Die Mechanismen, die sonst zum Erfolg führen (“Schau, wie’s der Nachbar macht und mach es nach.”) schlagen fehl – kein anderer hat dieses “Problem”. Sind Schnürsenkel ein Problem? Nur für den, der (noch) nicht gelernt hat, damit umzugehen und keinen kennt, der ihm Modell sein kann. Vergleichbar geht es vielen Hochsensiblen in unserer “normalen” Alltagswelt.
Auch die umgekehrte Reihenfolge Krankheit -> Problematisches Verhalten -> Erklärung -> Entlastung ist nicht gültig, wenn auch sehr beliebt.
Die spannende Frage, die dahinter steht: Wer ist verantwortlich?
Die unterschiedlichen Sichtweisen und Vorgehensweisen der einen und der anderen sind nicht immer kompatibel. Viele hochsensible Menschen mussten die Erfahrung machen, für ihr Verhalten Kritik, Unverständnis und Ablehnung zu ernten. Wer dabei zur “Mehrheit” gehört, hat es mit der Argumentation deutlich einfacher und der Abweichler hat den Schwarzen Peter. Für den Hochsensiblen ist die eigene Wahrnehmung und das eigene Verhalten zunächst aber ganz normal und natürlich und er versteht nicht, warum er Schwierigkeiten mit seiner Umwelt hat.
Insbesondere für Eltern hochsensibler Kinder ist es oft schwierig, Erklärungen für die “seltsamen” Eigenarten ihrer Kinder zu finden. Kaum irgendwo gibt es so viele niedergeschriebene Normen , die definieren, was normal ist, wie für Kinder: Wann sitzt es, wann krabbelt es, wann läuft es, wann spricht es, was spricht es, wie geht es mit anderen um, wie reagiert es auf dieses und jenes.
Und der eigene Zwerg ist “anders” … die Umfeld stellt Fragen, man selbst stellt sich Fragen, man landet in einer Rechtfertigungs-Schleife: Was haben wir nur falsch gemacht?
Wenn sich eine Erklärung auftut, für hochsensible Erwachsene oder Eltern hochsensibler Kinder, die sie von der Verantwortung befreit, bedeutet das für viele eine große Entlastung: Nicht man selbst und das eigene Handeln sind “schuld” an den Schwierigkeiten, sondern eine Krankheit, eine angeborene Disposition, eine genetische Variation, o.ä.
Nachvollziehbar – aber zu einfach.
Zum einen ist Hochsensibilität keine Krankheit (wie unten dargestellt), zum anderen trägt stets jeder die Verantwortung dafür, was er aus seinen Anlagen macht. Um es differenzierter auszudrücken: Hochsensibilität kann eine Erklärung aber keine Rechtfertigung dafür sein, dass man / oder das Kind mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Und diese Erklärung kann in der Tat enorm erleichternd sein.
Doch das ist nicht das Ende der Reise, sondern der Anfang. Damit beginnt der spannende Weg, das Leben für sich / mit seinem Kind zu gestalten. Leben, in einer Weise, die zu der Veranlagung passt, in dem man sich “richtig” fühlt, das einem ermöglicht, die Potenziale auszuschöpfen – statt an den Problemen zu scheitern.
Es ist gut, verantwortlich zu sein, dann sitzt man selbst am Steuer, hat Lenkrad, Gas und Bremse selbst am Fuß und in der Hand. O.k., es ist mit Risiko verbunden, aber wer will schon sein Leben lang in einem Spielzeugauto sitzen, das sich auf einem Karussell im Kreis dreht?
Aber dafür so …
Die spezielle Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung führt zu verschiedenen positiven, leider aber auch zu negativ erlebten Begleiterscheinungen, weswegen der eine oder andere im Alltag zu kämpfen hat. Hochsensibilität hat, wie alle “Besonderheiten”, ihre Nebenwirkungen, speziell in einer Gesellschaft, die im Schwerpunkt von Menschen gestaltet wird, die diese Veranlagung nicht besitzen. Das ist normal, darum aber auch nicht einfacher. Jeder, der größer, kreativer, musikalischer, intelligenter, reicher, dümmer, femininer, androgyner, heller oder dunkler ist als andere, wird Licht- und Schattenseiten erleben. So auch Hochsensible. Doch: Sie sind nicht gestört und nicht krank, jedenfalls nicht ursächlich durch diese Veranlagung.
Bei der Hochsensibilität handelt es sich um eine (davon geht man heute aus) angeborene Persönlichkeitseigenschaft, die mit bestimmten Fähigkeiten verbunden ist. Sie ist auf eine Besonderheit des Nervensystems zurückzuführen, die etwa bei 10-20% aller Mensche vorkommt. Sie führt zu einer erhöhten Sensitivität der Sinnesorgane gegenüber Umweltreizen und inneren Empfindungen und zu einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber sozialen Aspekten. Männer und Frauen können gleichermaßen hochsensibel sein, wenn auch viele Männer in ihrer Sozialisation gelernt haben, dies erfolgreich vor anderen (und oft auch vor sich selbst) zu verbergen, da diese Eigenschaften in der westlichen Welt nicht als männlich und damit auch nicht positiv bewertet werden. In einigen Kulturkreisen wird das anders gesehen, weshalb dort die Eigenschaften, die Hochsensiblen zugeschrieben werden, sowohl bei Frauen wie bei Männern deutlich mehr Anerkennung finden.
Neben den klassischen psychologischen Untersuchungen kam man in einem ganz anderen Bereich zu vergleichbaren Erkenntnissen. Der Startschuss fiel an unterschiedlichen Orten, doch haben sich die wissenschaftlichen Vertreter der einen und der anderen Disziplin erfreulicherweise gefunden und damit dem Konzept zu – wie ich denke – noch mehr Glaubwürdigkeit verholfen.
Nicht nur das Säugetier Mensch, auch bei mehr als 100 anderen Spezies (Vögel, Insekten, Fische, Spinnen, Huftiere, Nagetiere, Affen …) konnte man diesen relativ konstanten Anteil an “hochsensiblen” Vertretern in einer Population nachweisen. (Man hat andere Bezeichnungen dafür gefunden, die jedoch das gleiche beschreiben). Man beobachtet eine Zweiteilung in eine Minderheit, die eher beobachtend, vorsichtig, aufmerksam und verantwortlich agiert und reagiert, und eine Mehrheit, die tendenziell nach vorne strebt, sorgloser und unbekümmerter, wagemutiger und neugieriger handelt.
Wenn die Natur artübergreifend die Entwicklung dieser beiden Temperamente verfolgt hat, muss es einen evolutionären Überlebensvorteil für die jeweilige Art geben. Insbesondere kann man daraus schließen, dass beide Ausprägungen ihren Sinn haben und im Zusammenwirken perfekt sind, sonst hätte sich im Laufe der Zeit eine davon zu Lasten der anderen durchgesetzt. Die Quote von 80:20 scheint optimal zu sein. Beide Strategien haben ihre Vorzüge und auch Nachteile, es hängt von der Situation ab, welche wann die günstigere ist.
Nein, zum Glück ist es so nicht
Nicht jeder, der empfindlich reagiert, ist hochsensibel. Umgekehrt bedeutet es keineswegs, dass ein Mensch ohne diese “Ausstattung” nicht im landläufigen Sinne sensibel sein kann. Hochsensibilität ist keine soziale Fähigkeit, sondern eine neuronale Besonderheit. Sensory Processing Sensitivity findet keine unmittelbare Entsprechung im Grad dessen, wie sensibel man sich im Alltag auf andere einstellt oder wie empfindlich man auf vermeintlich unfaires Verhalten oder Kritik reagiert. Das kann grundsätzlich jeder Mensch, mehr oder weniger.
Umgekehrt gilt genauso: Selbst wenn hochsensible Menschen grundsätzlich “befähigt” sind, sich in andere hinein versetzen zu können, heißt das noch lange nicht, dass sie sich rücksichtsvoll und einfühlsam verhalten.
So schon …
Hochsensibilität ist eine Persönlichkeitsdimension unter mehreren. Hochsensible haben deshalb einiges gemeinsam und anderes unterscheidet sie voneinander, wie auch von allen anderen Menschen. Im Vergleich des individuellen Verhaltens einzelner Hochsensibler findet man eine große Variationsbreite. Das liegt zum einen daran, dass nicht alle mit gleich starken Ausprägungen in allen Facetten der Hochsensibilität geboren werden und des Weiteren jeder im Laufe seines Lebens eine andere Sozialisation erfährt, die die Anlagen in unterschiedlicher Weise zur Entfaltung bringt.
Eine Veranlagung ist zunächst eine Gabe, ein Potenzial, eine Möglichkeit, aus der man vieles entwickeln kann. Erst die Summe der Erfahrungen und Erlebnisse und Entscheidungen im Leben macht den individuellen Menschen zu dem, was er ist. Hochsensibilität erlaubt differenzierte Wahrnehmungen und tiefe Empfindungen – es kommt darauf an, was der einzelne daraus macht.
So bitte nicht …
Es gibt nicht den Hochsensiblen und auch nicht einen mehr oder weniger Hochsensiblen, wie manche sogenannten Tests suggerieren wollen.
Nachvollziehbar, dass man gerne den typischen Hochsensiblen hätte. Doch gilt hier das Gleiche wie für alle Stereotypen – manches stimmt, manches nicht. Je weiter man weg geht, umso ähnlicher erscheinen die Vertreter. Je dichter man ‘ranzoomt’, umso deutlicher werden die Unterschiede.
So wie Asiaten unter sich eine äußerliche Ähnlichkeit aufweisen und gegenüber Europäern auffälligere Unterschiede zeigen, ist jeder und jede für sich ganz einzigartig. Ein Asiate ist nicht “asiatischer” als der andere. So wenig wie ein Mensch hochgradig hochsensibel ist und einer nur mittelmäßig. Die Ausprägungen präsentieren sich von Individuum zu Individuum verschieden. Nicht bei jedem zeigen sich alle Facetten der Veranlagung in gleichem Maß. Während der eine in der Welt der Töne zuhause ist, zeichnet den anderen eine besonders feine Geruchswahrnehmung aus. Während der eine sehr empathisch ist, ist der andere außergewöhnlich kreativ. Während der eine besonders gründlich und genau ist, ist der andere umwerfend warmherzig und mitfühlend.
So!
Gemeinsam sind allen vier Hauptcharakteristika, die kennzeichnend sind für Hochsensible Personen. Elaine Aron hat die Hauptcharakteristika in dem Akronym DOES zusammengefasst:
D steht für Depth of Processing – Tiefe der Informationsverarbeitung als Voraussetzung für alles andere.
O steht für Easily Overstimulated – Leicht überstimuliert oder überreizt sein. Der optimale Grad an Anregung ist schneller erreicht, insbesondere als Folge des vorherigen Punktes.
E steht für Emotionaly Reactivity and High Empathy – Emotionale Berührbarkeit. Hochsensible zeigen stärkere Gefühlsreaktionen auf positive und auf negative Reize.
S steht für Sensitivity to Subtile Stimuli – Wahrnehmung (auch) subtiler Reize, Bewusstsein und Wahrnehmung von Feinheiten.
Leider wird in Presseartikeln, die mittlerweile häufiger das Thema aufgreifen, vorwiegend der Aspekt der ‘Empfindlichkeit’ in den Vordergrund gestellt. Die besondere Qualität, die in der differenzierten Wahrnehmung und komplexen Verarbeitung von Informationen liegt, wird oft nur am Rande oder gar nicht erwähnt, dabei ist sie der Kern der Hochsensibilität und ihr wahrer Schatz.
Im Detail äußert sich Hochsensibilität in einem ganzen Blumenstrauß von Fähigkeiten und Eigenschaften, die Sie zum Beispiel hier nachlesen können.
Viele Eigenschaften und Fähigkeiten sind polar, sie bringen auf einer Seite Gutes, in der Übersteigerung aber auch Ungutes mit sich. Ordnungssinn, eine Tugend? Wenn er in Pedanterie ausartet, wird das nicht mehr so gesehen. Strukturiertheit, sehr gut? Nicht, wenn dadurch die Flexibilität leidet. Fleiß? Ja, wenn er nicht in Selbstausbeutung mündet.
So erklärt sich, warum auch viele Charakteristika, die man HSP zuschreibt, einerseits sehr positiv sind, in den Augen derer, die andere Maßstäbe anlegen, aber auch zu einem Manko werden können und Kritik hervorrufen. Jeder urteilt nach eigenem Dafürhalten, und sogar HSP selbst können ein “zu viel des Guten” manchmal als lästig, störend oder hinderlich empfinden.
Wertungen der Eigenschaften sind nicht hilfreich und schon gleich gar nicht der Individuen. Sind Hochsensible die besseren Menschen? Sind Hochsensible zu schwach für diese Welt? Beschreibungen und Erklärungen dagegen wohl: Um sich selbst zu verstehen, um andere zu verstehen, um Gegensätze zu verstehen, um Ergänzungsmöglichkeiten zu erkennen. Um sich selbst zu akzeptieren und um andere zu respektieren. Wechselseitig – die einen und die anderen.