Anders wäre einfach, wenn anders einfach anders wäre und nicht so schnell mit negativen Labels beklebt würde: befremdlich, seltsam, komisch, ... Können Menschen miteinander sein, ohne Wertungen vorzunehmen? Vielleicht ist eine archaische Eigenschaft des menschlichen Naturells, das schon den Neandertalern ermöglicht hat, zwischen gutem und schlechtem Futter oder freundlichen bzw. gefährlichen Artgenossen zu unterscheiden. Die Wertung und der Vergleich (mehr als, intensiver als, weniger als, so gut wie, ...) schleicht sich schnell in eine Darstellung und sagt oft genauso viel über den Beschreibenden wie über den Beschriebenen.
Anders.
Andersartigkeit im menschlichen Miteinander wird allzu oft argwöhnisch beäugt und der abgedroschene Spruch 'Gleich und gleich gesellt sich gern' drückt aus, was im realen Leben passiert: Wer anders ist, ist anstrengend, fordert unsere Toleranz, unsere Flexibilität, unsere Aufmerksamkeit, unsere Anpassung, unser Bewusstsein. Was gleich ist, ist bequem, bestätigt unsere Weltsicht, bestätigt uns in unserem Sein und Wirken, funktioniert ohne viel Nachdenken, gibt uns Sicherheit und fordert nichts, was wir womöglich nicht geben können. Andersartiges macht uns argwöhnisch, reserviert oder gar abweisend. Dieses Phänomen lässt sich in der aktuellen Politik auf der anderen Seite des Atlantiks gerade wieder anschaulich beobachten. Dabei ist die Frage, wann etwas anders und wann es gleich ist, schon eine sehr diffizile, da sich in den Augen mächtiger Männer die Einstellung gegenüber anderen Osteuropäer(innen) und anderen Mexikanern manchmal eklatant unterscheidet.
Anderes und Andere schaut man sich lieber im Urlaub an. Aus der Sicherheit der Hotelanlage heraus geht man auf Sightseeingtour und bestaunt das Fremde und Exotische. Exkursionen in andere Kulturen, Weltanschauungen und Handlungsweisen. Und dann schnell wieder zurück in den Bus, zum vertrauen Continental Breakfast und den reservierten Liegen. Aber direkt so im Alltag, miteinander, mit Andersartigen, och nö, das muss ja nun nicht sein.
Was aber, wenn diese Andersartigen unter uns sind? Getarnt, ohne Kopftuch, gleiche Hautfarbe, aussehen wie wir und sprechen wie wir? Wenn manche sogar so gut angepasst sind, dass sie sich nicht mal selbst als anders erkennen?
Dann gibt es unterschiedliche Möglichkeiten für die Mehrheit und für die exotischere Minderheit:
a. Sich oder die anderen als über- bzw. unterlegen deklarieren.
b. Den Versuch unternehmen, die Unterschiede zu ignorieren und sich der Mehrheit anzupassen.
c. Leben und leben lassen, ohne weiter darüber nachzudenken.
und best case
d. Die Unterschiede wahrnehmen, würdigen und die Chance auf Ergänzung nutzen.
Bleiben wir gleich beim besten aller Fälle. Unterschiede sind nichts Böses, sie sind im Gegenteil die Chance, uns an der Stelle zu ergänzen, wo wir nicht die Klassenbesten sind. Manche Fähigkeiten schließen sich sogar aus. Wer stets sehr planvoll vorgeht, wird schnell unflexibel. Wer sehr spontan ist, dem fehlt manchmal der langfristige Plan. Manchmal ist es gut, vorauszudenken, manchmal ist es besser, sich schnell auf neue Gegebenheiten einstellen zu können. Und nicht jeder kann beides gleich gut. Das gelebte Prinzip der Ergänzung ist das was Teams oder Beziehungen wertvoll macht. Es klappt sogar bei Paaren, in denen sonst nicht viel diskutiert und reflektiert wird. Die eine kann eine Hilti bedienen, aber einen Knethaken nicht vom Rührbesen unterscheiden, der andere eine zartschmelzende Mousse au Chocolat zubereiten, ohne zu wissen dass ein Beißzange kein Seitenschneider ist. Und zusammen bringt man die Löcher in die Wand und den Nachtisch in den Bauch.
Salz und Zucker, Licht und Schatten, Sonne und Mond, Gänseblümchen und Rasen, Arbeit und Urlaub, Land und Fluss. Jedes für sich hat einen Wert und doch wäre nur jeweils eines davon weniger als die Hälfte. Der Wert und die Bedeutung entsteht aus dem Kontrast, aus dem Zusammenspiel, aus der Ergänzung und der Komplettierung, aus dem So und Anders, aus der Polarität. So hat es sich die Natur gedacht. Aber sie hat dem Mensch noch ein Bewusstsein und die Chance für freie Entscheidungen mitgegeben. Menschheitsgeschichtlich ein Fortschritt, für den Einzelnen nicht immer ein Segen.
Was vermeintlich selbstverständlich erscheint, klappt im Zusammenleben nicht immer so gut. Auch nicht, wenn die sogenannten anderen hochsensibel (siehe dazu die ersten beiden Folgen der Serie) sind. Obwohl sie an vielen Stellen, auch und vor allem im Beruf aufgrund ihrer besonderen Wahrnehmungsbegabung eine Bereicherung darstellen könnten, haben viele nicht die Chance diese gewinnbringend einzusetzen. Das liegt nicht nur am Umfeld, sondern häufig genug auch an den Betreffenden selbst. Die wechselseitige Wertschätzung für die Besonderheiten, auch für die eigenen, wären Voraussetzung für den Best Case.
Im gelebten Alltag kommen die Varianten a, b, und c vermutlich deutlich häufiger vor. Die Vieldenker und Vielfühler unter uns (offiziell Hochsensible oder HSP für Hochsensible Personen genannt) sind in vielerlei Hinsicht so wie alle anderen und in mancherlei Hinsicht gewissermaßen eine Unterart der menschlichen (oder anderer) Spezies. Die Erkenntnis, hochsensibel zu sein, löst nicht selten einen Tsunami der Erleichterung aus. Diejenigen, die bisher dachten, die einzigen zu sein, die sich als unterschiedlich und teilweise als inkompatibel mit ihrem Umfeld erleben, befinden sich plötzlich in Gesellschaft. Durch die Feststellung 'so wie mir, geht es auch anderen' erleben sie ihre Unterschiedlichkeit nicht mehr nur als trennend (im Vergleich zur Mehrheit) sondern auch als verbindend (mit dem Rest der Minderheit).
Trotz des Hangs zur Individualität gibt es ein menschliches Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Wer anders ist als andere, vermisst dieses Gefühl. Die vielen Fragezeichen im Kopf ('Warum geht es nur mir immer so, dass .... ') tragen nicht zur inneren Stabilität bei. Über den allgegenwärtigen gesellschaftlichen Vergleich empfinden die Hochsensiblen meist weniger ihre besonderen Stärken, die sie zudem für selbstverständlich erachten, als vielmehr ihre Achillesfersen, die sie verwundbar machen. Wobei Achill mit seiner einen Ferse deutlich besser dran war als viele Hochsensible, deren verwundbare Stellen einen halben Anatomieatlas füllen würden.
Wenn schon die Betreffenden selbst eher ihre Nachteile sehen, wie sollen all die anderen eine Wertschätzung aus dem Hut zaubern? Die guten Ideen, das offene Ohr, die guten Nachfragen, wird alles gern genommen. Aber ohjehmine, wie lang immer alles dauert und so kompliziert und diese Grundsatzfragen und die Stimmungsabhängigkeit und jedes Wort auf die Goldwaage legen und und und. Hätten die Vieldenker und Vielfühler ein Selbstbewusstsein mit gutem Fundament, wäre es ihnen möglich, den Scheinwerfer auf die Qualitäten zu richten. Haben sie aber oft nicht, wenn sie zeitlebens für ihre Andersartigkeit viel Skepsis und wenig Bestätigung geerntet haben.
Einige Verhaltensforscher unter den Biologen (zum Beispiel Max Wolf in Leipzig) haben festgestellt, dass es in vielen Tierpopulationen Minderheiten gibt, die stärker auf Umweltreize reagieren und auch Informationen aufnehmen, die den übrigen Artgenossen verborgen bleiben. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag für die Herde, weil sie wissen, wo die besten Wasserlöcher sind, die Gefahr schon erschnüffeln, währen ihre Artgenossen noch am Kotelett des erlegten Rentiers nagen. Dafür eignen sie sich weniger, um das Revier zu verteidigen oder den Obergorilla der Nachbartruppe mit imposantem Gebrüll in die Flucht zu schlagen. Tatsächlich fand man in vielen Tierpopulationen genau diesen Anteil von etwa 15% an sogenannten 'responsive animals'. Wolf postuliert, dass diese Besonderheit einen evolutionären Vorteil bringt, wenn sie innerhalb einer Population selten vorkommt, nicht allerdings, wenn sie die Mehrheit darstellt. Deshalb können 'responsive and unresponsive personalities' wunderbar in Eintracht zusammen leben und voneinander profitieren. Die Evolution reproduziert von Generation zu Generation dieses Verhältnis von ca. 1/6 zu 5/6. Die positive Verstärkung durch die Artgenossen macht es zudem für die Tiere einfacher, ihre Qualitäten einzubringen.
So einfach kann es sein. Im Menschenreich ist das natürlich deutlich komplizierter. Nicht nur erfahren die Hochsensiblen viel Ablehnung und wenig Wertschätzung, nein, viele davon werten sich selbst oder – auch das gibt es – diejenigen ab, die keine so feine Wahrnehmung haben und deren Antennen nur die Paukenschläge und nicht die feinen Töne auffangen. Einerseits nachvollziehbar, andererseits unnötig und ungünstig, sich als etwas Besseres zu fühlen, wenn man von der Natur mit etwas ausgestattet wurde, das nicht alle haben. Intelligenz ist auch ein solches Beispiel. Wem haben die Supersuperklugen ihr intellektuelles Potenzial zu verdanken? Sie wurden so geboren, wie die (natürlich) Blonden, die Großen, die (natürlich) Großbusigen, die Kurzsichtigen und die Hochsensiblen. Also, kein Grund zur Einbildung, kein Grund zur Abwertung – nicht in die eine, nicht in die andere Richtung.
Auch wenn die eben beschriebene Variante a. in der menschlichen Art sehr verbreitet ist, zeugt sie nicht von persönlicher Reife. Selbst Tiere kommen ohne viel Nachdenken zu besseren Ergebnissen.
Die Variante b. ist ebenfalls häufig, zumal viele bisher noch nichts davon mitbekommen haben, dass es eine Disposition wie Hochsensibilität überhaupt gibt. Manche haben zwar davon gehört, lehnen sie aber als Modeerscheinung ab, weil sie ihr Weltbild nicht gerne verändern möchten. Dann wäre ja eine Prüfung der eigenen Erklärungsmuster und –bewertungen notwendig oder gar ein Relaunch derselben.
Andere wiederum sehen im Phänomen der Hochsensibilität ein Mittel zur Rechtfertigung von Minderleistungen und ... manche nutzen sie auch als Ausrede für eigene Unzulänglichkeiten. "Ich kann das nicht, weil ich hochsensibel bin." "Oh, das kann ich natürlich nachvollziehen, nehmen Sie sich eine Auszeit und erholen Sie sich von den vielen Eindrücken, ich übernehme das." Bis das passiert, müsste vermutlich erst mal Weihnachten auf den Frühlingsanfang fallen. Wer seine Veranlagung vorschiebt, in der Hoffnung Verständnis für den empfundenen Overload zu bekommen, gießt tatsächlich Öl ins Feuer all derjenigen, die ohnehin der Meinung sind, dass Hochsensibilität nur ein Synonym für Bergaufbremser und Blasenteetrinker ist.
Aber auch aus anderen Gründen werden die Unterschiede platt gemacht. Insbesondere Männer finden die Zuschreibungen, die mit Hochsensibilität verbunden werden, für sich selbst nicht immer erstrebenswert. Kreativ, vielschichtig, differenziert, genau, gerecht, das mag ja noch angehen. Aber einfühlsam, sensitiv, feinsinnig, entscheidungsschwach, verletzlich? Nein danke, dann lieber doch ein bisschen Rocky Balboa. Auch so manche leistungsorientierte Frau ist zwar einerseits bereit zu glauben, dass sie etwas anders tickt, aber sie misst sich mit dem selben Maßstab wie alle anderen und fordert Leistungen von sich, die sie an den Rand der Erschöpfung bringen oder darüber hinaus.
Statt das eigene Leben 'artgerecht' zu gestalten, um die Qualitäten und Potenziale zur Entfaltung zu bringen, passt man sich/seine Kinder der Norm an, die eben für die 'meisten' gilt. Für die passt sie 'meistens' auch, für die Vielfühler und Vieldenker ist schon das Fernsehprogramm eine Zumutung und entspricht so wenig ihrem Naturell wie Grillpartys und Kreuzfahrten.
Bleibt noch die Variante c. Leben und leben lassen. Im Grunde eine Haltung, die zwar einerseits die Chancen wenig nutzt, dafür aber auch keinen niedertrampelt oder in Frage stellt. Bei den Nicht-Hochsensiblen zeugt sie von Toleranz gegenüber Andersartigen und Andersdenkenden. Bei den Hochsensiblen selbst ist sie Ausdruck des In-sich-Ruhens, was all jenen gelingt, die mit sich im Reinen sind und weder sich selbst, noch ihr Umfeld glauben ändern zu müssen. Davon gibt es auf der einen wie auf der anderen Seite leider nicht allzu viele. Toleranz, Akzeptanz, Gelassenheit sind nicht die Anführer der Hitliste auf der Werteskala der westlichen Nationen. Auch die Hochsensiblen werden nicht als Gutmenschen geboren, mögen sich auch einige dafür halten. Am schwierigsten ist für sie ohnehin die eigene Wertschätzung. Denn nur wenige haben von Kindheit an erfahren, dass sie gut sind, wie sie sind, dass ihre Wahrnehmungen wertvoll, ihre Schlussfolgerungen durchdacht, ihre Gedanken umfassend, ihre Ideen ungewöhnlich, ihre Feinsinnigkeit beeindruckend ist. Wer häufig Stirnrunzeln, Ungeduld, verdrehte Augen, Anpassungsdruck und Korrektur erfahren hat, dem fehlt oft der notwendige Glaube und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die notwendig sind für L/leben und leben lassen.
Die Natur macht keine Fehler, sie probiert vielleicht manches aus und lässt es auch wieder sein, wenn es doch kein Erfolgsmodell geworden ist. Die Variante, einen Teil jeder Art empfänglicher zu machen für äußere und innere Wahrnehmungen, ihn mit Sinnen auszustatten, die stets auf Empfang stehen, ihnen zu ermöglichen, auch bei 'leisen Tönen' berührt zu sein und eine tiefe Resonanz im Inneren zu spüren, ist kein Mangel, ist kein Zufall. Dahinter steckt ein tieferer Sinn. Die Tiere haben es schon verstanden und die Menschen, also einige davon, werden es ebenfalls begreifen. Etwas langsamer zwar, aber sie haben ja auch einen Verstand, der von der Intuition erst mal überzeugt werden muss, das kann schon mal dauern